Hereditäres Angioödem Typ III
Das hereditäre Angioödem (engl.: hereditary angioedema – HAE) ist eine seltene Erkrankung, die bei vielen Patienten erst spät erkannt wird und eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität mit sich bringen kann. Die genaue Prävalenz des HAE ist nicht bekannt, man schätzt aber, dass weltweit etwa einer von 10.000 – 50.000 Menschen betroffen ist. Die Patienten zeigen in unregelmäßigen Abständen rezidivierende Schwellungen der Haut, Schleimhäute oder verschiedener innerer Organe. Wie man seit einigen Jahren weiß, spielt auf der Stoffwechselebene das Kallikrein-Kinin-System und das Endprodukt dieses Stoffwechselweges, das Bradykinin, für die Krankheitsentstehung eine zentrale Rolle.
Bisher sind drei Subtypen der Krankheit bekannt, die allesamt einem autosomal-dominanten Erbgang folgen. Bei Patienten mit einem HAE Typ I und Typ II sind aufgrund einer Mutation die Konzentration und/oder die Aktivität des C1-Esterase-Inhibitor (C1-INH) erniedrigt. Der C1-INH hemmt normalerweise zentrale Faktoren der Kallikrein-Kinin-Kaskade und bewirkt so eine kontrollierte Freisetzung von Bradykinin, welches eine Erweiterung der Blutgefäße hervorruft. Die eingeschränkte Funktion des C1-INH führt zu einer überschießenden Bildung des Peptidhormons Bradykinin und damit zu einer verstärkten Erweiterung der Blutgefäße, die wiederum einen Flüssigkeitseinstrom in das umliegende Gewebe und somit eine Ödembildung zur Folge hat.
Die Forschungsgruppe für hereditäres Angioödem beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit einem dritten bekannten Typ des HAE, Typ III. Dieser ist klinisch vom HAE Typ I und II nicht zu unterscheiden und gehört ebenso wie diese zu den Bradykinin-vermittelten Angiödemen. Allerdings ist beim HAE Typ III kein genetischer Defekt im C1-INH nachweisbar, die Funktion des C1-INH ist normal. Mitglieder der Forschungsgruppe konnten vor einigen Jahren bei einem Teil der HAE Typ III – Patientinnen und Patienten eine Mutation im Gen für den Blutgerinnungsfaktor XII (Hageman Faktor) als ursächlich für die Erkrankung identifizieren. Funktionelle Untersuchungen deuten darauf hin, dass durch die Mutation die Aktivität des Faktor XII gesteigert wird. Dadurch kommt es zu einer überschießenden Bradykinin-Produktion, die wiederum für die Schwellungsattacken verantwortlich ist.
Weitere Hintergrundinformationen zum HAE Typ III
Die große Gruppe der Angioödeme lässt sich grob in allergische und nicht-allergische Formen unterteilen. Das HAE gehört zu den nicht-allergischen Formen. Anders als bei den allergischen Formen spielt Histamin als Mediator keine Rolle, und bei den Patienten werden in der Regel keine Urtikaria beobachtet. Kortikosteroide, Antihistaminika und Adrenalin (oder Adrenalinderivate), die bei den allergischen Angioödemen oft therapeutisch wirksam eingesetzt werden, zeigen beim HAE daher auch keine Wirkung. Beim HAE kommen momentan Medikamente zum Einsatz, die entweder die zu geringe Konzentration oder Funktionalität des C1-INH supplementieren oder als Bradykininrezeptor-Antagonist fungieren. Diese sind in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Angioödeme aufgeführt (s.u.).
Die klinischen Symptome des HAE Typ III sind spontane, wiederkehrende Schwellungen in verschiedenen Körperbereichen. Am häufigsten sind die Haut (insbesondere Gesicht und Genitalien), der Magen-Darm-Trakt und der Kehlkopf betroffen. Diese Schwellungen sind meistens nicht lebensgefährlich, schränken aber normales Leben und Arbeiten ein. Eine relativ häufige Komplikation sind allerdings Schwellungen der Zunge, des Pharynx und Larynx, welche wegen der Erstickungsgefahr potentiell lebensbedrohlich für die Patienten sind. Attacken im Magen-Darm-Bereich erzeugen heftige, aber unspezifische Schmerzen, was häufig zu Fehldiagnosen und nicht-indizierten operativen Eingriffen führt.
Wie im Überblick bereits erwähnt sind drei Formen des erblichen Angioödems bekannt, die sich in ihrer klinischen Ausprägung kaum unterscheiden. Ursächlich für Typ I- und II-HAE sind Mutationen im C1-Inhibitor-Gen, die im Falle von Typ I zu einer verminderten Konzentration eines intakten C1-Inhibitor-Proteins führen und im Falle von Typ II in einer normalen oder erhöhten Konzentration eines funktionell defekten Proteins resultieren. Für den Typ III ist in einem Teil der Patienten eine Mutation ursächlich, die im Exon 9 des Blut-Koagulationsfaktor XII, dem Hagemann-Faktor, liegt. Dieser Faktor XII beeinflusst die Bildung des Gewebshormons Bradykinin, das, ähnlich dem Histamin, ein vasoaktives Hormon ist, die Eigenschaften der Blutgefäßwände beeinflusst und damit eine wichtige Rolle bei der Durchlässigkeit der Gefäßwände spielt. Durch die mutationsbedingte strukturelle Veränderung des Faktor XII-Proteins, kommt es in der s.g. Kinin-Kallikrein-Kaskade zu einer Überproduktion an Bradykinin (gain of function) und so zu erhöhter Permabilität der Gefäßwände. Diese erhöhte Durchlässigkeit ermöglicht den Übertritt intravasaler Flüssigkeit in das umliegende Gewebe, was zur Entstehung von Ödemen führt. Diese aberrante Bradykinin-Bildung wird derzeit als ursächlich für die Schwellungsneigung der HAE Typ III-Patienten angesehen. Bei dem größeren Teil der Patienten mit der Verdachtsdiagnose HAE Typ III sind keine Mutationen im Faktor XII – Gen nachweisbar. Die genetische Grundlage der Erkrankung ist in diesen Patienten bisher unklar.
Während in Familien mit HAE Typ I und II Frauen und Männer gleichermaßen von den Attacken betroffen sind, fällt in Familien mit dem HAE Typ III, bei denen eine Mutation im Faktor XII – Gen vorliegt, auf, dass fast ausschließlich Frauen die Krankheitssymptome zeigen. Die Erklärung hierfür ist wahrscheinlich in der Regulation der Expression des Hagemann-Faktors durch Östrogen zu suchen. Veränderungen des Östrogenhaushaltes bei Frauen, wie Eintritt in die Pubertät, Schwangerschaft, Einnahme von Östrogen-haltigen Kontrazeptiva, sowie Hormonersatztherapie, scheinen das Auftreten von Schwellungsattacken zu begünstigen. Ödemattacken können aber auch spontan und ohne erkennbaren Auslöser entstehen. Männliche Mutationsträger sind durch die im Vergleich zu Frauen niedrigeren Östrogenspiegel eher vor Attacken geschützt, der allergrößte Teil bleibt daher asymptomatisch. In Ausnahmefällen können aber auch Männer mit der Mutation Krankheitssymptome entwickeln; diese sind aber in der Regel dann deutlich schwächer ausgeprägt als bei Frauen.
Auszug aus der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Angioödeme (DAG), der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI), der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG) und der Gesellschaft für Pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin (GPA):
In Deutschland stehen jetzt fünf Medikamente für die Behandlung von HAE zur Verfügung: Berinert® P (C1-INH-Konzentrat), Firazyr® (Icatibant), Ruconest™ (rekombinanter humaner C1-INH), Cinryze® (C1-INH-Konzentrat) und frisches Gefrierplasma. Alle sind geeignet zur Behandlung akuter Attacken im Erwachsenenalter. Bisher gibt es noch keine Publikationen über Erfahrungen mit Firazyr®, Ruconest™ und Cinryze® in der täglichen Praxis an großen Patientenzahlen. Eine Gewichtung ist insofern aufgrund der bisherigen Datenlage nicht möglich.
Forschungsziele der Arbeitsgruppe:
Die Forschergruppe für HAE Typ III hat das Ziel, über ein besseres Verständnis der molekularen Ursachen langfristig zu einer Verbesserung der Risikovorhersage und der Therapieoptionen für diese Form des hereditären Angioödems zu kommen. Dies könnte auch zu einem besseren Verständnis weiterer Angiödem-Formen führen, wie z.B. ACE-Hemmer-induzierten Angioödemen.
Über den HAE Typ III ist im Gegensatz zu den weit besser verstandenen Typen I und II wenig bekannt. Der Typ III weist normale C1INH-Konzentration und Funktion auf, so dass Defekte in einem oder mehreren anderen Genen verantwortlich für die Krankheit sein müssen. Zudem wurde der Typ III fast ausschließlich in Frauen beschrieben. Die Arbeitsgruppe konnte den ersten genetischen Defekt beim Typ III beschreiben, eine Missense-Mutation im Gen für den Blutgerinnungsfaktor XII. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass es neben Mutationen im Faktor XII Gen noch weitere krankheitsverursachende Gene geben muss, da eine Reihe von Familien mit HAE Typ III keine Mutationen im FXII Gen aufwiesen.
Folgende wissenschaftliche Fragestellungen werden derzeit von uns bearbeitet:
- Bestimmung des Anteils von HAE Typ III Patienten mit Mutation im Faktor XII Gen.
- Identifizierung neuer, ursächlicher Genmutationen für HAE Typ III und für klinisch ähnliche Phänotypen, die möglicherweise durch andere genetische Veränderungen verursacht werden. Ein Beispiel ist das Hereditäre Idiopathische Nicht-Histaminerge Angioödem (HINHAO), welches sowohl Männer als auch Frauen betrifft.
- Charakterisierung der Pathomechanismen von Faktor XII Genmutationen, die zum Phänotyp in weiblichen Patientinnen führen.
- Langfristig Entwicklung rationaler Therapiekonzepte für die Krankheit, basierend auf neu identifizierten Krankheitsgenloci.
- Rekrutierung weiterer Patienten und Familien mit HAE Typ III und Anlage einer DNA-Bank für diese Patienten.
Vernetzung:
Die Forschergruppe ist als „Forschungszentrum für hereditäres Angioödem“ in das Zentrum für Seltene Erkrankungen Bonn (ZSEB) eingebunden. Zwischen 2008 und 2013 wurde die Forschung durch das Projekt „Genetik, Pathophysiologie und Therapie des hereditären Angioödems Typ III“ im Rahmen des europäischen E-RARE Forschungsprogramms gefördert. Dieses Projekt etablierte eine nachhaltige Zusammenarbeit zwischen den beantragenden Gruppen in Bonn (S. Cichon/ M. Nöthen), Köln (H.C. Hennies), Würzburg/Stockholm (T. Renné), Grenoble (C. Drouet) und Mailand (M. Cicardi), sondern ermöglichte darüber hinaus auch neue Kollaborationen mit klinischen Partnern in Angers (L. Martin), Berlin (M. Magerl / M. Maurer), Sevilla (T. González-Quevedo), Madrid (T. Caballero / M. López Trascara), Sao Paolo (A. Grumach) und Montpellier (N. Raison-Peyron).
- Forschungsthemen
- Hereditäres Angioödem Typ III
- ACE-Hemmer/ Angiotensin-Rezeptor-Blocker induziertes Angioödem
- Brain Genomics
- Demenz
- Kraniofaziale Genomik
- Lippen-Kiefer-Gaumenspalten
- Ösophagusatresie
- Fehlbildungen von Lunge, Gastrointestinal- & Urogenitaltrakt
- Achalasie
- Host Genetics
- Androgenetische Alopezie
- Kreisrunder Haarausfall
- Monogene Alopezien
- Genomic Imaging
- Genomik von Verhalten und psychischen Störungen
- Erblicher Darmkrebs
- Magenkarzinom
- Barett-Ösophagus
- Lese- und Rechtschreibstörung
- Mastzellerkrankungen
- Pharmakogenomik
- Psychomotorische Entwicklungsstörungen