Lese- und Rechtschreibstörung
Das Forschungsprojekt wird in enger Kooperation mit der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität München (LMU) durchgeführt. Darüber hinaus sind noch andere nationale und internationale Forschungseinrichtungen an dem Projekt beteiligt.
Klinik und Genetik
Die Lese-Rechtschreibstörung, auch Dyslexie genannt, beschreibt eine ausgeprägte Lese- und Schreibschwäche trotz adäquater Schulausbildung und normaler Intelligenz. Unter anderem richtet sich die Diagnose an dem sog. Alters- und IQ-Diskrepanzkriterium. Dabei liegt das Niveau der Leseleistung unterhalb des Niveaus, das aufgrund des Alters und der allgemeinen Intelligenz zu erwarten wäre. Ursächlich stellt die Dyslexie eine komplexe und heterogene neurobiologische Störung dar. Zu den Komponenten, die am Entstehungsprozess beteiligt sind, rechnet man das Kurzzeitgedächtnis, die phonologische Bewusstheit, das schnelle Benennen sowie die phonologische und orthographische Dekodierfähigkeit. Je nach Schweregrad und Ausprägung der Lese-Rechtschreibstörung sind einige oder mehrere dieser kognitiven Komponenten und deren koordiniertes Zusammenwirken betroffen.
Mit einer Prävalenz von 5% zählt die Dyslexie zu einer der häufigsten Entwicklungsstörungen des Kindes- und Jugendalters. Formalgenetische Untersuchungen konnten einheitlich zeigen, dass genetische Faktoren am Entstehungsprozess der Erkrankung beteiligt sind, wobei der Anteil erblicher Faktoren auf bis zu 70% geschätzt wird. Dabei handelt es sich um eine sog. multifaktorielle Störung, die durch das gleichzeitige Vorliegen von Genveränderungen bzw. Risikovarianten in vielen unterschiedlichen Genen gekennzeichnet ist. In unterschiedlicher und individueller Kombination sowie in Wechselwirkung tragen sie zur Krankheitsdisposition bei. Die einzelnen Risikogene sind allerdings noch nicht bekannt. Ihre Entschlüsselung ist aber von entscheidender Bedeutung, um die zellbiologischen Ursachen der Dyslexie erstmals zu verstehen.
Forschungskonzept
Die erfolgreiche Aufklärung von multifaktoriellen Krankheiten ist seit wenigen Jahren durch sog. genomweite Assoziationsanalysen (GWAS) möglich. Gegenwärtig führen wir diese moderne Untersuchungsmethode bei der Lese-Rechtschreibstörung durch. Sie wurde bislang bei der Erforschung der Dyslexie noch nicht eingesetzt. Genetische Assoziationsanalysen werden an großen Kollektiven von betroffenen Personen und gesunden Kontrollpersonen durchgeführt. Es wird untersucht, ob ein bestimmtes Allel einer genetischen Variante häufiger bei Patienten als bei Kontrollen vorkommt. Liegen signifikante Unterschiede zwischen beiden Gruppen vor, stellt das bei den Patienten überrepräsentierte Allel den genetischen Risikofaktor dar. Mittlerweile sind Assoziationsanalysen genomweit möglich. Bei diesen GWAS handelt es sich um die derzeit modernste Methode zur Aufklärung multifaktorieller Krankheiten. GWAS müssen aber an relativ großen Fall-Kontroll-Kollektiven durchgeführt werden, damit die krankheitsverursachenden Allele sicher und umfangreich identifiziert werden können.
In schon naher Zukunft wird das Next Generation Sequencing (NGS) das modernste molekulargenetische Verfahren für die Analyse multifaktorieller Krankheiten darstellen und die Komplettsequenzierung (Bestimmung der Abfolge bzw. der Sequenz der Basen) des gesamten Genoms von größeren Kollektiven erlauben. Sofern Risikovarianten multifaktoriellen Krankheiten zugrunde liegen, die sich mit GWAS nicht identifizieren lassen, können sie durch das NGS gefunden werden. Entsprechend möchten wir frühestmöglich NGS-Untersuchungen bei der Dyslexie durchführen.
Mit der Identifikation der Risikogene endet unser Forschungsvorhaben jedoch nicht. Anschließend sollen die Zusammenhänge zwischen den identifizierten Genen und kognitiven sowie neurobiologischen Markern der Dyslexie untersucht werden. Dies ist möglich, da für ein Teil unserer Patienten umfangreiche klinische Untersuchungsdaten vorliegen. Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren wurden beispielsweise strukturelle Veränderungen sowie funktionelle Vorgänge im Gehirn erfasst, die einen Zusammenhang mit der Dyslexie aufweisen. Außerdem wurden zahlreiche kognitive Fertigkeiten, wie beispielsweise die Fähigkeit Laute in Wörtern zu manipulieren, untersucht. Identifizierte Risikogene sind auch die Voraussetzung, um die für die Dyslexie Krankheits-relevanten zellbiologischen Vorgänge aufzuklären. Durch die dargestellten Untersuchungen auf den unterschiedlichen Beobachtungsebenen (Genetik, Kognition, Neurobiologie und Umwelt) möchten wir die Dyslexie umfassend erforschen, um spezifischere und effektivere therapeutische Maßnahmen zu entwickeln.
- Forschungsthemen
- Hereditäres Angioödem Typ III
- ACE-Hemmer/ Angiotensin-Rezeptor-Blocker induziertes Angioödem
- Brain Genomics
- Demenz
- Kraniofaziale Genomik
- Lippen-Kiefer-Gaumenspalten
- Ösophagusatresie
- Fehlbildungen von Lunge, Gastrointestinal- & Urogenitaltrakt
- Achalasie
- Host Genetics
- Androgenetische Alopezie
- Kreisrunder Haarausfall
- Monogene Alopezien
- Genomic Imaging
- Genomik von Verhalten und psychischen Störungen
- Erblicher Darmkrebs
- Magenkarzinom
- Barett-Ösophagus
- Lese- und Rechtschreibstörung
- Mastzellerkrankungen
- Pharmakogenomik
- Psychomotorische Entwicklungsstörungen
Unsere Projektleiter
Prof. Dr. med. Markus M. Nöthen
Unsere Mitarbeiter
Dr. rer. nat. Jessica Trautmann
E-Mail: jtrautmann@uni-bonn.de
Publikationen
Genetic analysis of dyslexia candidate genes in the European cross-linguistic NeuroDys cohort.
Becker J, Czamara D, Scerri TS, Ramus F, Csépe V, Talcott JB, Stein J, Morris A, Ludwig KU, Hoffmann P, Honbolygó F, Tóth D, Fauchereau F, Bogliotti C, Iannuzzi S, Chaix Y, Valdois S, Billard C, George F, Soares-Boucaud I, Gérard CL, van der Mark S, Schulz E, Vaessen A, Maurer U, Lohvansuu K, Lyytinen H, Zucchelli M, Brandeis D, Blomert L, Leppänen PH, Bruder J, Monaco AP, Müller-Myhsok B, Kere J, Landerl K, Nöthen MM, Schulte-Körne G, Paracchini S, Peyrard-Janvid M, Schumacher J.
Eur J Hum Genet [Epub ahead of print]
Ludwig, K.U., Samann, P., Alexander, M., Becker, J., Bruder, J., Moll, K., Spieler, D., Czisch, M., Warnke, A., Docherty, S.J., Davis, O.S., Plomin, R., Nöthen, M.M., Landerl, K., Müller-Myhsok, B., Hoffmann, P., Schumacher, J., Schulte-Körne, G. & Czamara, D.
Transl Psychiatry 2013 3: e229
Evidence for the involvement of ZNF804A in cognitive processes of relevance to reading and spelling
Becker, J., Czamara, D., Hoffmann, P., Landerl, K., Blomert, L., Brandeis, D., Vaessen, A., Maurer, U., Moll, K., Ludwig, K.U., Müller-Myhsok, B., Nöthen, M.M., Schulte-Körne, G. & Schumacher, J.
Transl Psychiatry 2012 2: e136
Czamara, D., Bruder, J., Becker, J., Bartling, J., Hoffmann, P., Ludwig, K.U., Müller-Myhsok, B. & Schulte-Körne, G.
Behav Genet 2011 41: 110-119
König, I.R., Schumacher, J., Hoffmann, P., Kleensang, A., Ludwig, K.U., Grimm, T., Neuhoff, N., Preis, M., Röske, D., Warnke, A., Propping, P., Remschmidt, H., Nöthen, M.M., Ziegler, A., Müller-Myhsok, B. & Schulte-Körne, G.
Am J Med Genet B Neuropsychiatr Genet 2011 156B: 36-43
Röske, D., Ludwig, K.U., Neuhoff, N., Becker, J., Bartling, J., Bruder, J., Brockschmidt, F.F., Warnke, A., Remschmidt, H., Hoffmann, P., Müller-Myhsok, B., Nöthen, M.M. & Schulte-Körne, G.
Mol Psychiatry 2011 16: 97-107
Ludwig, K.U., Röske, D., Herms, S., Schumacher, J., Warnke, A., Plume, E., Neuhoff, N., Bruder, J., Remschmidt, H., Schulte-Körne, G., Müller-Myhsok, B., Nöthen, M.M. & Hoffmann, P.
Am J Med Genet B Neuropsychiatr Genet 2010 153B: 503-511
Genetics of dyslexia: the evolving landscape.
Schumacher, J., Hoffmann, P., Schmal, C., Schulte-Körne, G. & Nöthen, M.M.
J Med Genet 2007 44: 289-297
Strong genetic evidence of DCDC2 as a susceptibility gene for dyslexia.
Schumacher, J., Anthoni, H., Dahdouh, F., Konig, I.R., Hillmer, A.M., Kluck, N., Manthey, M., Plume, E., Warnke, A., Remschmidt, H., Hulsmann, J., Cichon, S., Lindgren, C.M., Propping, P., Zucchelli, M., Ziegler, A., Peyrard-Janvid, M., Schulte-Körne, G., Nöthen, M.M. & Kere, J.
Am J Hum Genet 2006 78: 52-62
Evidence for linkage of spelling disability to chromosome 15.
Schulte-Körne, G., Grimm, T., Nöthen, M.M., Müller-Myhsok, B., Cichon, S., Vogt, I.R., Propping, P. & Remschmidt, H.
Am J Hum Genet 1998 63: 279-282